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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - IV Erfahrungen ... -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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IV c)-5- Die Praxis-Welle

Diese Welle beeinflusste in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts den Mathematik-Unterricht, jedoch keineswegs überall.

Sie ist nicht losgelöst von der Studentenbewegung jener Jahre verständlich. Für diese sollte die Schule eine Schlüsselfunktion erhalten. Sie sollte Schüler heranbilden, welche die Schwächen, ja Ungerechtigkeiten der Gesellschaft erkannten und danach für eine bessere Gesellschaft wirkten.

An zahlreichen Schulen, so auch an meiner, bildeten sich Arbeitsgruppen von Schülern, oft inspiriert von Lehrerstudenten, welche den tradierten Unterricht aller Fächer reflektierten und Gegenmodelle entwickelten.

Ich beteiligte mich gern an solchen Arbeitsgruppen zum Fach Mathematik und erhielt durch sie zahlreiche Anregungen für meine Ideen eines besseren Mathematik-Unterrichts.

Hinter der Frage "Wozu lernen wir das?" stand nun nicht mehr nur schlichte Unlust, sondern das Bedürfnis zur Erprobung von Neuem. Ich bedauere sehr, dass das dahinter stehende Engagement heute gänzlich fehlt (auf S. 30 wurde dies bereits erwähnt), so sehr auch damals manche Schülerideen durch ihre Unausgegorenheit "nervten".

Besonders beeindruckte mich, dass diese Schüler nicht mehr wie viele Generationen davor ihrem Ärger über unbefriedigenden Unterricht einfach durch "Motzen" Luft verschafften, sondern den Grund dafür reflektierten. Sie begannen, über die Funktion der Lehrer in der Gesellschaft und über das Selbstbewusstsein der Lehrer nachzudenken. Lehrer, die ihnen Kummer bereiteten, luden sie zu Diskussionen hierüber ein.

Einige Lehrer ergriffen die darin liegenden Chancen, oft mit Gewinn für ihren Unterricht, andere hingegen sahen in den Bemühungen der Schüler nichts als eine organisierte Verschwörung zur Sabotierung des "Bewährten".

Im Mittelpunkt der Kritik war oft die Zensurengebung. Sie wurde als reines Repressionsmittel betrachtet und daher ihre völlige Abschaffung gefordert. Unterricht, der auf eigener Einsicht basiere, brauche ein solches Druckmittel nicht.

Zu mir sagten die kritischen Schüler: Wenn ich wirklich ihrem Ziel gegenüber so aufgeschlossen sei wie ich vorgäbe, sollte ich einen Verzicht auf die Zensuren "mangelhaft" und "ungenügend" versprechen. Dies lehnte ich strikt ab und begründete das. Alle die Schüler, welche noch kein Bewusstsein für selbst bestimmtes Lernen hätten, würden sich dann am Unterricht überhaupt nicht mehr beteiligen und sich stattdessen der banalen Konsumkultur ausliefern. Damit würden sie letztlich ihrem eigenen Interesse zuwider handeln, wären sie doch dann den fachlichen Anforderungen der Gesellschaft nicht gewachsen. Meine Argumente überzeugten kaum.

Nur in einem gab ich den Schülern recht. Auch ich sah die Stufenleiter der Zensuren als unnötig an. Diese sollte durch ein einfaches "bestanden" bzw. "nicht bestanden" ersetzt werden. Jede Abstufung würde nur die Zensurenjagd und damit - wie man damals sagte - eine Sekundärmotivation fördern.

Interessanterweise waren es meist gerade Schüler mit besonders guten Noten, welche die Zensuren kritisierten.

Am meisten dem beschriebenen Ziel nahe kamen die bereits auf S. 27 erwähnten Tvind-Schulen in Dänemark. Die erste dieser Schulen wurde nahe dem Dorf Tvind an der Westküste Jütlands gegründet, daher der Name.

An diesen selbst organisierten Schulen gibt es keinerlei Zensuren. Unterrichtsinhalt und -form werden in Vollversammlungen von Lehrern und Schülern beschlossen, wo alle gleiches Stimmrecht haben. Die Annahme erfolgt nicht durch Mehrheitsbeschluss,. sondern durch Konsens. Dieser wird oft erst nach sehr langen Treffen erzielt. Die behauptete Repressionsfreiheit hierdurch wird - sicher zu recht- oft bezweifelt, da Abweichler einem starken Gruppendruck ausgesetzt werden.

Die Schulen werden überwiegend vom Staat finanziert, wie alle freien Schulen. Die Lehrer geben 15 % ihres Gehalts in einen gemeinsamen Fond. Dieser wuchs rasch an und ermöglichte so den Ankauf immer neuer Gebäude zur Errichtung weiterer Schulen, so dass heute schon von einem Tvind-Imperium gesprochen wird.

Gegen die Tvind-Schulen gab es immer wieder eine Medienhetze, bei der Betrug mit den staatlichen Zuschüssen behauptet, aber letztlich nie bewiesen wurde. Die Schulen tragen selbst einen Teil der Schuld an den Vorwürfen, denn die Handhabung der Finanzen ist teils chaotisch, teils schwer zu durchschauen.



Ich besuchte die erste dieser Tvind-Schulen mit einer Gruppe von Berliner Lehrern, die in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft organisiert waren. Wir konnten uns in persönlichen Gesprächen davon überzeugen, dass junge Menschen, selbst bereits vorher straffällig gewordene, hier Selbstvertrauen gewannen und erfolgreich und froh lernten. Gruppen aus Lehrern und Schülern arbeiteten meist praktisch. Sie bauten Windgeneratoren und Schiffe. Mit diesen unternahmen sie dann Reisen in die dritte Welt zu solidarischer praktischer Arbeit dort. Auf diese Reisen bereiteten sie sich gründlich vor.

Unverständlich für uns war die oft extreme Theorie-Feindlichkeit. Die Erfahrungen früherer Generationen, damit auch die von diesen gefundenen Naturgesetze, wurden ignoriert. Eigene Erfahrung sollte alleiniger Maßstab für die Arbeit sein. Ein Beispiel: Den Boote bauenden Schülern war zu unserer Verblüffung das Archimedische Gesetz unbekannt. Die Schwimmfähigkeit eines Schiffes galt es durch "Try and Error" zu gewinnen.

An deutschen Schulen waren die Bemühungen um praxisorientierten Mathematik-Unterricht wenig erfolgreich. Zum einen war es schwer, echte Beispiele aus der Praxis zu behandeln. Denn diese erwiesen sich rasch als für den üblichen Unterricht meist zu schwierig.

Ein Beispiel: Schüler schlugen etwa vor, Fragen bei der Berechnung der damals immer kühner entworfenen Hängebrücken - wie der über den großen Belt von 1400 m Spannweite - zu behandeln. Das hätte aber die Kenntnis der Funktion des hyperbolischen Kosinus vorausgesetzt.

Schon aus früheren Zeiten sind die sog. Anwendungsaufgaben bekannt. Fern der realen Arbeitswelt haben sie meist kein anderes Ziel als die Illustrierung abstrakt gewonnener Zusammenhänge. Allgemein bekannt sind Aufgaben, bei denen Dosen mit minimalem Materialverbrauch zu berechnen sind. Sie sind als Illustrierung der Differentialrechnung durchaus schön, nur treten sie in der Wirklichkeit der Industrie gar nicht auf und sind somit nicht "praxisnah".

Erst wenn die Mathematik als historisch entstanden vorgestellt wird, lässt sich vermitteln: Sie ist aus praktischen Anforderungen entstanden, hat sich dann, hiervon gelöst, selbständig weiter entwickelt und erst dadurch schließlich wiederum der Praxis genützt. Kurz: Es liegt ein dialektischer Prozess vor.

Das wurde aber damals kaum auch nur im Ansatz behandelt, trotz des oft vertretenen Anspruchs in der Studentenbewegung, den dialektischen Materialismus zu vertreten (s. vorher den Hinweis auf die DDR S. 31).

Ein Beispiel für diese Dialektik in der Mathematik ist die von Minkowski ausgebaute Idee einer vierdimensionalen Geometrie, scheinbar zunächst ein reines Gedankenspiel. Dann erwies sie sich aber, durch Einstein aufgegriffen, als entscheidend zu einem tieferen Verständnis des realen Raums.

Die oft hilflose Bemühung von Lehrern um praxisnahe Mathematik, angeblich meist mit geringen mathematischen Ansprüchen und mit Ideologie gepaart, karikiert die hier folgende rasch populär gewordene Geschichte.

Früher stellte man folgende Aufgabe: Ein Bauer hat 50 kg Kartoffeln. 4 % erweisen sich als Schwund. Den Rest verkauft der Bauer zu -.18 DM pro kg. Wie groß ist sein Erlös?

Zur Zeit der "Mengen-Welle" wird aus der Aufgabe:
Ein Bauer hat eine Menge M von Kartoffeln, Masse 50 kg.
Eine Untermenge S mit 4 % der Masse geht als Schwund verloren. Die Komplementärmenge M - S wird zu einem Preis von -.18DM pro kg verkauft.
Wie groß ist der Erlös des Bauern?

Bei der "Praxis-Welle" wird hieraus:
Ein Bauer hat 50 kg Kartoffeln. 4 %, also 2 kg, gehen als Schwund verloren.
Die restlichen 48 kg verkauft der Bauer zu -.18 DM pro kg, erzielt also 48 mal -.18 DM = 8,64 DM.
Diskutiere mit Deinem Nachbarn über die Ausbeutung der Bauern durch die fehlende Berücksichtigung seines Verlustes!

    
behr-a-r@mail.dk