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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - IV Erfahrungen ... -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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Gab es bei mir - die Frage liegt nun nahe - nie Gruppenunterricht? Kaum. Die wenigen Versuche dazu habe ich als wenig erfolgreich in Erinnerung. Das mag z. T. daran liegen, dass ich von vornherein geringe Erwartungen hatte. Denn - wie erwähnt - hatte ich als Student wenig aus Gruppenarbeit profitiert.

Der Hauptgrund war aber wohl, dass eine Schülergruppe nur erfolgreich arbeitet, wenn einer den anderen gerade entdeckte Zusammenhänge verständlich vermitteln kann. Die Ausdrucksweise eines Schülers ist aber bei gerade Erarbeitetem, jedenfalls in der Mathematik, oft noch zu unsicher.

Zurückblickend will ich nicht bestreiten, dass ich auf zwei Gebieten durchaus Gruppenarbeit hätte ermöglichen sollen, bei praktischer Einübung von neu Erkanntem und bei kleinen "Entdeckungsreisen" in vertrauter Terminologie.

Zu solchen ein Beispiel, das der sog. Ulam-Folgen natürlicher Zahlen. Gewählt wird eine ungerade Zahl. Sie wird verdreifacht, 1 addiert und das Ergebnis so lange wie möglich halbiert. Mit der neuen - wieder ungeraden - Zahl macht man dasselbe, usw. Man "landet" schließlich, wenn auch oft erst nach unerwartet vielen Schritten - bei 1. Beispiel:
5
5+1=6
6/2=3
3+1=4
4/2=2
2/2=1

Zahlreiche Fragen drängen sich hier auch bei Schülern auf. Hierzu gehört etwa die, ob man einer Zahl ansehen könne, ob schon wenige Schritte zum Ziel führten, oder die Frage, ob man beweisen könne, dass man stets bei 1 ende. Diese Frage ist, trotz großer Anstrengungen zahlreicher Mathematiker, bis heute unbeantwortet.

Naheliegend ist es, statt zu verdreifachen eine andere Multiplikation vorzunehmen. Es ergeben sich so laufend überraschende Resultate, die den Schülern Mut zu neuen Fragen machen.

Je länger ich unterrichtete, desto mehr erkannte ich als wesentlich die Frage: "Wurde ich von den Schülern wirklich verstanden?"

Zu einfach wäre die Antwort, die viele Lehrer geben. Das zeige sich doch bei der nächsten schriftlichen Arbeit! Denn es besteht die Gefahr, dass der Lehrer die Aufgaben der Arbeit so gestaltet, dass reine Rechentechnik zur Lösung führt. Ein wirkliches Verständnis der Zusammenhänge ist so nicht erkennbar.

Wenn ein Lehrer etwas Neues erarbeitet hat, sollte er sich sofort fragen, ob dieses wirklich verstanden sei. Daran fehlt es nur zu oft. Ein Beispiel:

Ein Schüler schreibt 70 = 1 an die Tafel. Auf die Frage, warum er 1 schreibe, antwortet er: "Meine Erfahrung zeigt, dass der Lehrer böse wird, wenn ich eine andere Zahl angebe!" Wie oft tritt es ein, dass Schüler Antworten geben, um strafende Blicke des Lehrers zu vermeiden, also sich in "mathematical correctness" ( in Analogie zur so aktuellen "political correctness") üben.

Bei einem Beispiel wie diesem muss viel Zeit zur Verfügung stehen. Es gilt zu vermitteln, dass mit der Wahl der 1 eine Konvention vorliegt, die Aussage 70 = 1 damit nicht beweisbar, aber sinnvoll ist. Denn nur sie erlaubt, die Beziehung am/an = am-n auch zu benutzen, wenn m = n. Auch muss betont werden, dass die Erweiterung von 70 auf a0 nur berechtigt ist, wenn a nicht gleich 0 ist. Bei a = 0 entstünde nämlich die Aussage 00 = 1. Eine Ausweitung von 0n = 0 auf n = 0 würde aber im Widerspruch hierzu 00 = 0 ergeben. Dem Ausdruck 00 darf daher keine Zahl zugeordnet werden, will man nicht in Widersprüche geraten.

Hierher mag das Folgende gehören. Ein Schüler schreibt an die Tafel a5×a3 = a15. Der Lehrer beanstandet dies natürlich, aber mit welcher Begründung? Verkehrt wäre der Hinweis, der Schüler habe die Regel am×an= am+n nicht beachtet. Denn die Regel ergibt sich erst aus einem Verständnis der vorliegenden Potenzen. Richtig wäre es, den Schüler daran zu erinnern, was mit a5 und a3 gemeint ist. Dann erkennt er selbst, dass a8 vorliegt.

Unterbleiben solche Betrachtungen, mag der Schüler sicher mit den Potenzregeln umgehen. Eine Einsicht in die Zusammenhänge hat er jedoch nicht gewonnen.

Es ist sicher ein lebenslanger Prozess, einen "Sensor" für ein Verstehen durch die Schüler zu entwickeln. Sowohl bei eigenem Unterricht wie bei Unterrichtsbesuchen bei Kollegen bemerkte ich allmählich, dass ein leerer, "glasiger" Blick von Schülern das sicherste Zeichen von Nichtverstehen war.

Antworten Schüler auf die Frage "Ist alles verstanden?" mit "Ja, im wesentlichen schon!", so muss man als Lehrer selbstkritisch erkennen: Es gibt in der Mathematik kein "im wesentlichen verstanden", sondern nur Verstehen oder Nichtverstehen.

Nicht verschwiegen sei folgendes Erlebnis: Die Schüler hatten meine Ausführungen deutlich nicht verstanden. Ein Schüler gab dann eine - in meiner Sicht unbefriedigende - Erklärung. Hierauf rief die Klasse begeistert: "Nun haben wir endlich verstanden!" Was macht man dann?

Nur zu oft wird man zwar verstanden, aber nicht von allen. Soll man weitere Zeit mit der Erklärungsbemühung bei den immer noch Ratlosen verwenden? Die anderen beginnen ungeduldig zu werden. Man muss abwägen zwischen der Gefahr, quicke Schüler zu langweilen, und der Chance, Langsameren zu helfen. Es ist tröstlich, dass die hierfür aufgewandte Mühe manchmal zu einem "Aha-Erlebnis führt, wenn auch nicht immer sofort.

Nach meiner Erfahrung sollte man den erkennbar Ratlosen eher zu viel als zu wenig Zeit widmen. Denn man hilft damit auch jenen, die ihre Ratlosigkeit nicht offen zeigen.

    
behr-a-r@mail.dk