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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - III Auf dem Wege ... -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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III b) Erste Erfahrungen im Unterrichten

Erst ein Jahr nach meinem Staatsexamen war ein Platz an einem Studienseminar frei. Es bestand aber Bedarf an Mathematik-Lehrern. An der Goethe-Schule in Berlin-Lichterfelde wurde ein Lehrer gebraucht, der zwölf Wochenstunden unterrichten würde. Ich ergriff diese Chance, dabei jedoch unterschätzend, was dies bedeutete. Schließlich müsste ich ohne jede Unterrichtserfahrung und didaktische Betreuung beginnen.

Die Schule war damals noch eine reine Mädchenschule. Mein Unterricht sollte ausschließlich in neunten Klassen erfolgen. Rund dreißig etwa fünfzehnjährige Mädchen blickten mich in der ersten Stunde an, neugierig oder spöttisch, schnell meine Unsicherheit erkennend.

Ich ging zur Tafel und hob, das von der Universität Gewohnte übertragend, wohl etwa mit den Worten an: "Gegeben sei folgende Gleichung ..." Mir unbegreiflich drang darauf von allen Seiten her Kichern an mein Ohr. Statt nach dem Grund hierfür zu fragen, meinte ich mir durch Stimmgewalt Respekt verschaffen zu müssen. Das machte das Ganze nur schlimmer. Nach und nach begannen die Mädchen zwischen dem unwiderstehlichen Drang zu lachen und ein wenig Mitleid mit dem hilflosen Mann an der Tafel zu schwanken.

Die ersten Monate wurden für mich ein Martyrium. Ich begann zu zweifeln, ob meine Berufsentscheidung wohl die richtige war. Ich klagte meine Not dem sehr verständnisvollen Rektor und bat ihn, selbst einmal meinen Unterricht zu besuchen. Er konnte danach meine Nöte überhaupt nicht verstehen. Hatten doch die Mädchen in seiner Anwesenheit konzentriert gearbeitet.

In einer Stunde brachten mich die Mädchen besonders in Verlegenheit, indem sie ständig auf den Knoten meines Schlipses starrten. Hatte ich dort vielleicht einen peinlichen Mayonnaise-Fleck von meinem Frühstücksbrot? Nach der Stunde stürzte ich zum Spiegel und fand - nichts. Das Starren auf den Schlips war mit dem einzigen Ziel verabredet worden, mich zu verwirren!



Freilich hatte ich - ganz unerwartet- auch bereits einen kleinen Erfolg. Nach der Behandlung quadratischer Gleichungen streifte ich kurz das Problem der Lösung von Gleichungen dritten Grades. Ein Mädchen fragte nach Lösungswegen für Gleichungen höheren Grades.

Ich berichtete von dem jungen französischen Mathematiker Galois. Dieser habe gezeigt, dass für Gleichungen fünften und höheren Grades keine Lösungsformel möglich sei. Neugierig wurden alle Mädchen, als ich erzählte, dass Galois den Nachweis in einer Nacht niedergeschrieben und am folgenden Tag sein Leben in einem Duell gelassen habe.

Zwei Mädchen gaben sich nicht zufrieden. Sie wollten den Beweis kennen lernen. Ich mußte sie vertrösten. Man könne den Beweis in der Bibliothek des mathematischen Instituts der FU nachlesen.

Riesig war meine Verblüffung, als diese Mädchen am nächsten Tage berichteten, sie hätten das Institut aufgesucht. Ein freundlicher Herr - es war der mir vertraute Professor Ostmann - habe sie nach ihrem Klassenlehrer gefragt und ihnen dann den Text von Galois gezeigt. Sie hätten nichts davon verstanden, aber nur weil dieser in Französisch abgefaßt war!

Das gesunde Selbstbewußtsein der beiden Mädchen zeigte mir, dass eine neue Generation herangewachsen war. Meine Generation hätte nicht im Traum gewagt, wie diese aufzutreten.

    
behr-a-r@mail.dk