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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - Studienjahre -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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IIe) Entscheidung zwischen anschaulicher und reiner Mathematik

Als Student fühlte ich mich stets von den Gebieten der Mathematik angezogen, die ein hohes Abstraktionsniveau hatten. Damit wäre ich für Bieberbach jüdischem Denken verhaftet und, da nicht selbst Jude, ein "Geistes-Jude". Eine solche absurde Konstruktion erfand Josef Goebbels. Er hatte von Bertolt Brechts jüdischem Einfluß gesprochen und auf den Hinweis, dieser sei kein Jude, ihn zum Geistesjuden erklärt.

Bei meiner Neigung zum Abstrakten mag durchaus eine gewisse Arroganz eine Rolle gespielt haben. Denn rein abstrakte Deduktionen bereiteten den meisten Studenten Schwierigkeiten. Man wusste sich also - ähnlich den erwähnten amerikanischen eln-Studenten - einer kleinen "Elite" zugehörig, wenn man sich leicht im Abstrakten bewegte.

Dahinter steht aber auch etwas anderes, was ich freilich erst allmählich erkannte. Die Stärke abstrakter Deduktionen liegt nicht nur in ihrer logischen Stringenz. Sie ist zudem arbeitserleichternd. Haben nämlich zwei Zusammenhänge in weit verschiedenen Gebieten der Mathematik dieselbe Struktur, so braucht der Zusammenhang nicht in jedem dieser Gebiete für sich untersucht zu werden. Denn die Abstraktion leistet den Arbeitsgang für beide. So läßt sich etwa die Lösungsmannigfaltigkeit einer homogenen Differentialglechung n. Grades mit demselben Verfahren wie die Lösung einer Gleichung n. Potenz finden, weil dieselbe Struktur vorliegt. Dies wird später näher dargestellt.

Je mehr man erfolgreich auf abstraktem Gebiet arbeitet, desto mehr verdrängt man allerdings eine wichtige Tatsache. Abstraktion heißt stets Abstraktion von etwas. Die axiomatische Geometrie als das Musterbeispiel reiner Abstraktion verzichtet - wie erwähnt - auf jede Veranschaulichung ihrer Begriffe, wie etwa Punkt, Gerade und Ebene. Übersehen wird aber gern, daß diese Begriffe und die auf sie bezogenen Axiome im Anschauungsraum entstanden sind, in einem langen Prozeß, an dessen Anfang handwerkliche Tätigkeit stand. Offen bleibt daher oft die Frage nach dem anschaulichen Bezug der abstrakten Begriffe. Die Äußerung vieler am Abstrakten orientierter Mathematiker, dass der anschauliche Bezug überhaupt nicht interessiere, legt die erwähnte Arroganz bloß.

Es war erst die Praxis als Mathematik-Lehrer, die meine Aufmerksamkeit hierauf lenkte. Es entstand die Frage, auf die näher eingegangen wird: Ist es dem Schüler nicht dienlich, wenn er selbst den kulturgeschichtlichen Prozeß der schrittweisen Abstraktion vom Handwerklichen zur "reinen" Geometrie kennenlernt, statt von vornherein mit der reinen Geometrie konfrontiert zu werden? Entsprechendes wurde zur Einführung des Zahlbegriffs bereits erwähnt.

Nur beiläufig erfuhr ich im Studium, daß nicht nur Bieberbach, sondern auch andere Mathematiker die Zusammenhänge von anschaulicher und abstrakter Mathematik untersucht hatten.

Der Finne Hjelmslev baute in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts eine Geometrie auf, die dem im realen Raum Vollzogenen näher kommt. Er verzichtet z. B. auf das Axiom, daß zwei Geraden sich, wenn überhaupt, in genau einem Punkt schneiden.

Der deutsche Mathematiker Dingler wurde dadurch bekannt, daß er sich mit der Herstellung einer ebenen Fläche im realen Raum beschäftigte. Er fand heraus, daß Steinmetze hierzu folgendermaßen vorgehen: Sie schleifen drei Steine A, B und C paarweise aneinander so lange, bis keine Zwischenräume mehr erkennbar sind.

Macht man das mit den Steinen A und B und entsprechend mit B und C, so kann das Resultat sein, dass eine konvexe Fläche von B in einer konkaven von A und in einer solchen von C gleitet. Tauscht man aber beim Schleifen die Steine ständig aus, so daß auch A und C aneinander geraten, so gelangt man schließlich zu Flächen, die weder konvex noch konkav, sondern eben sind. Mit Hilfe dieses Vorgangs definiert Dingler nun eine ebene Fläche.

Bei anderen Mathematikern fand Dingler kaum Gehör. Durch die Machtergreifung der Nationalsozialisten erhoffte er sich die ersehnte Anerkennung. Diese begrüßten zwar seine Ideen als "germanisch-sinnenfroh". Zu seiner großen Verbitterung ermöglichten sie ihm jedoch keine Hochschul-Karriere. Man sah, dass diese Ideen auf ein Nebengleis führten, denn die allgemein akzeptierte Geometrie hatte ihren praktischen Nutzen längst erwiesen.

Tiefer liegt ein Weiteres: Die Entwicklung der nichteuklidischen Geometrie ist bekanntlich eine Glanzleistung der axiomatischen Denkweise. Dennoch gewann gerade sie im realen Raum Bedeutung, nämlich in der Astronomie nach der Schaffung der Allgemeinen Realtivitätstheorie. Zwischen Abstraktion und realem Bezug besteht so - und nicht nur hier! - ein geradezu dialektischer Zusammenhang.

1953 schloß ich mein Studium ab. Thema der Staatsexamensarbeit war, wohl nicht überraschend, "Abstrakte Maß- und Integrationstheorie". Hierbei behandelte ich u. a. - wie man damals sagte - "Absurditäten" wie Kurven, die überall stetig, aber nirgends differenzierbar sind. Erst in den letzten Jahren fanden solche Gebilde als Beispiele von Fraktalen stärkeres Interesse.

    
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