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  Reinhart Behr:   Leben mit Mathematik - Studienjahre -

 Inhalt  Vorwort  I: Rolle der Mathematik  II: Studienjahre  III: Referendariat  IV: Lehrberuf  V: Mathematik im Ruhestand

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IIc) Die Spaltung Berlins und ihre Folgen

Drang in jenen kritischen Jahren wirklich die Politik so wenig an unsere Ohren? Natürlich nicht. In Westberlin wurde die DM eingeführt. Auf sowjetischen Druck wurde die Stadt nun gespalten und der gesamte Warenverkehr nach Westberlin blockiert.

Dies ist nicht der Ort, die Auswirkungen der Spaltung und Blockade sowie der berühmten alliierten Luftbrücke als Reaktion darauf ausführlich zu schildern. Die Blockade endete nach etwa einem Jahr als Folge von Geheimverhandlungen der USA mit der Sowjetunion. Damals war es noch diplomatischer Usus, sich um eine Konfliktlösung zu bemühen, die beide Seiten ihr Gesicht wahren ließ. So wurde offiziell verkündet, beide Mächte hätten sich zu einer "Aufhebung der gegenseitigen Verkehrsbehinderungen" entschlossen.

Die Zeit der Blockade war, besonders für die Westberliner, bitter gewesen. Dennoch sei hier gegen eine Mythenbildung gesprochen. Das Ziel der Sowjetunion war nicht, Westberlin auszuhungern. Es wurde angeboten, dass jeder Westberliner Nahrungsmittel in Ostberlin beziehen könne. Hierfür würde er einen speziellen Ostberliner Ausweis erhalten. Nur ganz wenige machten von diesem Angebot Gebrauch. Zu deutlich wurde hierdurch eine Abhängigkeit von sowjetischer Willkür angestrebt. Auch meine Eltern und ich lehnten diesen Weg ab.

Dennoch war es während der ganzen Blockadezeit möglich, sich zwischen Ost- und West-Berlin frei zu bewegen, und ich setzte mein Studium an der Humboldt-Universität im sowjetischen Sektor als Westberliner ungehindert fort.

Im Jahre 1949 setzte zunehmender politischer Druck auf die Humboldt-Universität ein. Studentenvertreter wurden als "westliche Agenten" verhaftet und zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt. Vorlesungen über Marxismus wurden obligatorisch. Ausgenommen hiervon war jedoch immer noch die mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät.

Einige Studentenvertreter traten in Verbindung mit der amerikanischen Besatzungsmacht in der Hoffnung, Unterstützung für den Aufbau einer von politischem Zugriff freien Universität zu erhalten. Die meisten Professoren verhielten sich gegenüber diesen Bestrebungen äußerst reserviert.

Trotzdem gelang im Herbst 1949 durch Mittel aus den USA die Gründung der Freien Universität, zunächst ohne eine mathematisch-naturwissenschaftliche Fakultät. Nach einem Semester war auch diese eingerichtet, und ich wechselte zu ihr.

Rasch war ich jedoch enttäuscht von ihrem zunächst recht mäßigen Niveau. Der Grund ist folgender: Die Professoren der Humboldt-Universität - hier spreche ich nur von den Mathematikern - waren unsicher. Der Topologe Grell sprach hierüber offen mit ihm vertrauten Studenten. Sollte man bleiben, um das Niveau der Humboldt-Universität zu erhalten? Sollte man sich um die Berufung an eine der angesehenen westdeutschen Universitäten bemühen? Oder sollte man zu der gerade errichteten westberliner Universität gehen? Diese besaß verständlicherweise noch keinen Ruf.

Die Dozenten entschieden ganz verschieden. Grell blieb, Helmut Hasse ging nach Hamburg. An die Freie Universität ging nur einer, Alexander Dinghas. Zögerlich kamen allmählich wenig bekannnte Dozenten aus Westdeutschland hinzu.

Man musste eine Aufnahmeprüfung bestehen, um an der FU weiterstudieren zu können. Mich prüfte Professor Dinghas. Er forderte von mir, den Primzahlsatz von Dirichlet zu beweisen. Nun muß man wissen, dass die Entwicklung dieses Beweises an der HU fast ein Semester einer Vorlesung über Zahlentheorie erfordert hatte. Ich erbleichte daher, worauf Dinghas sich vor Lachen ausschüttete und sagte: "Ihr Erbleichen zeigt, dass Sie von der Schwierigkeit des Satzes wissen. Sie sind aufgenommen!"

Dinghas hatte eine makabre Art von Humor, überhaupt des Umgangs mit Menschen, die ihm zahlreiche Reibungen mit Kollegen und Studenten einbrachten. Dies mag auch der Grund dafür sein, dass Kollegen von der HU vermieden, mit ihm an der FU zu arbeiten.

Im Sommer 1950 erlebte ich an der FU eine Sommer-Vorlesung. Diese hielt der nicht zum Lehrkörper gehörende Professor Ludwig Bieberbach. Thema: Welche geometrischen Probleme sind mit Zirkel und Lineal lösbar? Die Zusammenhänge waren z. T. schwierig, aber stets anschaulich nachvollziehbar. Dies war besonderes Anliegen von Bieberbach, einem Gegner rein abstrakten Vorgehens.

    
behr-a-r@mail.dk